Überlegungen im Institut De pace fidei zu Friedensethik und zum Krieg in der Ukraine
„Der Ukrainekrieg als Herausforderung kirchlicher Friedensethik“ (W. Palaver)
Der Krieg, der in der Ukraine Ende Februar entflammt ist, weckt nach wie vor sehr verschiedenartige Gefühle in uns allen. Diese Feststellung machten ebenfalls die Mitglieder des Brixner Ökumenischen-Interreligiösen Institutes „De Pace Fidei“, weshalb es bereits nicht einfach war eine einheitliche Position dazu in einer ersten Aussendung im März zu finden. Damals wurde vor allem die vielfach empfundene Erfahrung der Ohnmacht gegenüber den vermeintlich Stärkeren hervorgehoben, die die die Welt nach imperialistischer Manier beherrschen wollen, sowie natürlich auch das Mitleid für die Opfer des Konfliktes, was über wohlwollende Gebete hinaus auch zu konkreten Formen der Solidarität anregen soll.
Deshalb steckte man sich das Ziel, den Blick noch zu weiten und angesichts der vielen Eskalationsherde in der Welt drängende Überlegungen friedens-ethischer Natur einmal ganz allgemein zu formulieren. Vor allem die Frage nach der angemessenen Positionierung der Religionen und vor allem des Christentums war dabei zentral. Bei den folgenden Reflexionen konnte man sich dankenswerterweise auf aktuelle Ausführungen des Innsbrucker Professors für Christliche Gesellschaftslehre, Wolfgang Palaver (geb. 1958), stützen. Er ist ein Experte in diesem theologischen Spezialbereich und zudem Präsident von „Pax Christi“ in Österreich. Es handelt sich im Folgenden um eine getroffene Zusammenschau, Interpretation und Priorisierung durch das genannte Institut.
Dass Stabilität und Frieden zwei fundamentale Werte sind ist unbestritten; wie hart und langwierig sie aber zu erreichen sind, ist wohl auch gerade uns Südtirolerinnen und Südtirolern aller Sprachgruppen nur zu gut bekannt. Das nach den beiden Weltkriegen und den Bombenjahren heute friedliche ethnische Neben- und Miteinander beruhte auf herausfordernden Prozessen des Aufeinanderzugehens, des Aushandelns und des Sich-Einfühlen-Wollens, von „unten herauf“ durch die Bürger/innen selber und von „oben her“ über die politischen Verantwortlichen. Dass ein friedensethischer Diskurs auch viel mit der Frage der sozialen Gerechtigkeit zu tun hat, wird noch aufgezeigt, denn je mehr Gerechtigkeit in den Gesellschaften auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene verwirklicht ist, desto unwahrscheinlicher brechen gewalttätige Konflikte oder Kriege aus. Beim Angriffskrieg Russlands gegen den ukrainischen Nachbarn trifft dies aufgrund der klar erkennbaren imperialistischen Motive nur ansatzweise zu, weshalb die militärische Verteidigung der Ukraine völkerrechtlich und moralisch eindeutig gerechtfertigt ist.
Ebenfalls ist für den vatikanischen Außenminister Erzbischof Paul Gallagher unbestritten, dass das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung mit zusätzlichen Waffenlieferungen aus dem Ausland unterstützt werden darf. Allerdings wird vom Vatikan im selben Moment betont, dass es niemals (primäre) Kompetenz der Kirche sei, konkrete militärische oder gar waffentechnische Fragestellungen zu beantworten. Aufgabe und Ziel kirchlicher Stellungnahme müsse es vielmehr sein zu verhindern, dass die Menschheit in alte kriegsbesessene Muster zurückfalle und die vorrangige Option der grundsätzlichen Gewaltfreiheit dabei vergesse. Das schließt in bestimmten Fällen – wie dem aktuellen in der Ukraine – keineswegs aus, dass militärische Verteidigung als Notwehr zur Anwendung komme. Damit ist ein fundamentalistisch verstandener Pazifismus bereits ausgeschlossen. Klar dürfte allerdings auch die auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens aufbauende Meinung sein, dass die NATO bedacht zu agieren habe, um eine noch gefährlichere Eskalation des Konflikts bis hin zum globalen Atomkrieg zu vermeiden. Militärisch ist es also gerade mit den heutzutage noch zerstörerischen modernen Waffen nicht möglich, alles das zu tun, was sich moralisch vielleicht aufdrängen würde.
Langfristig muss es aus christlicher Sicht sowieso immer darum gehen, alles zu tun, um Kriege als (Macht-)Mittel der Politik für immer aufzugeben. Deshalb warnt die Katholische Kirche auch mit Nachdruck davor, zu meinen, dass zukünftig noch erhöhte Rüstungsausgaben mehr Sicherheit mit sich bringen würden. Mit den dafür beabsichtigten Finanzmitteln aus den Staatshaushalten ließe sich viel Sinnvolleres machen und präventiv durch bessere Lebensstandards und gesellschaftliche Gerechtigkeit der Gewalt vorbeugen. Papst Franziskus fasst es in seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ wie folgt zusammen: „Mit dem Geld, das für Waffen und andere Militärausgaben verwendet wird, richten wir einen Weltfonds ein, um dem Hunger ein für alle Mal ein Ende zu setzen und die Entwicklung der ärmsten Länder zu fördern, damit ihre Bewohner nicht zu gewaltsamen oder trügerischen Lösungen greifen oder ihre Länder verlassen müssen, um ein menschenwürdigeres Leben zu suchen.“ (FT 262) Nichtsdestotrotz wird der für ökologische Nachhaltigkeit einstehende „grüne Papst“ nicht müde, auch in Fragen des Friedens zu betonen, dass es die eigenen (christlichen) Lebensstile sein müssten, von denen eine Veränderung ausgehe: Also auch Gewaltfreiheit von der Ebene des lokalen Alltags bis zur Ebene der Weltordnung.
Was können aber nun Religionen und religiöse Gemeinschaften konkret zur Friedensethik beitragen? Einige kritische Stimmen werden behaupten, dass schon die Fragestellung falsch angelegt sei, indem eine grundsätzliche Gewaltaffinität seitens der Religionen in der älteren und jüngeren Geschichte behauptet wird. Für eine brauchbare Antwort muss innerhalb der Religionen nach Potentialen für Frieden und nach den Versuchungen zur Gewalt gesucht werden. Bei aller Problematik von den Religionen allgemein zu sprechen, besteht ein Kompromiss vielleicht darin, für die großen Glaubensgemeinschaften davon zu sprechen, dass sie dann zum Frieden beitragen, wenn sie den üblichen anthropozentrischen Standpunkt ablegten und den „Blick Gottes“ zum Ausgangspunkt nähmen: Weil die Liebe Gottes keinen Unterschied zwischen den Menschen macht, ermöglicht sie Frieden. Nicht in den fundamentalen religiösen Überzeugungen findet Gewalt eine Grundlage, sondern nur in deren fundamentalistischen Verformungen und Missbräuchen. Der Moskauer Patriarch Kyrill I. steht hingegen gerade für eine „Symphonie“ von Kirche und Staat und unterstützt unter Missbrauch der wahren Orthodoxie Putin.
Gehen wir speziell für das Christentum an dessen Anfänge zurück, ist eindeutig zu belegen, dass die ersten beiden Jahrhunderte der christlichen Kirche (noch) im Zeichen der Gewaltfreiheit und einer Distanz zu militärischer Gewalt standen. Ausschlaggebend dafür waren die prophetischen Visionen von einem messianischen Friedensreich in der hebräischen Bibel und die Bergpredigt Jesu mit der Aufforderung, die eigenen Feinde zu lieben und auf Gewalt nicht mit Gegengewalt zu reagieren. Weil die Kirche in dieser frühen Phase als gesellschaftliche Randgruppe keinen Anteil an der politischen Macht hatte, konnte diese Praxis der Gewaltfreiheit das Leben der Christinnen und Christen weitestgehend bestimmen. Mit der „Konstantinischen Wende“ wurde das Christentum dann zur bestimmenden Religion im Römischen Reich und war schon dadurch genötigt, die Haltung der Gewaltfreiheit zugunsten einer Lehre vom gerechten Krieg aufzugeben. Von kriegerischer Gewaltverherrlichung kann aber schon damals keine Rede sein. Die Jahrhunderte der Gräuel der Unterdrückung Andersdenkender und die perfiden Grausamkeiten im Zuge der Inquisition stehen freilich auf einem anderen Blatt der Kirchengeschichte. Das machtpolitisch legitimierte Konzept der Kirche eines gerechten – wenn auch nicht heiligen – Krieges, wird in der Gegenwartsgeschichte spätestens mit dem Ersten Weltkrieg infrage gestellt, wenn nicht gar ad absurdum geführt. Die enorme Zerstörungskraft moderner atomarer Waffensysteme und das schreckliche Vernichtungspotential chemischer und biologischer Kampfstoffe lässt das Mittel des Krieges grundsätzlich mehr als anzweifeln. Dieses „Verbot“ des Kriegs steht auch im Zentrum der 1945 beschlossenen Charta der Vereinten Nationen, die in ihrer Präambel die Entschlossenheit betont, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“, ohne den Regierungen eine rechtmäßige Verteidigung ihrer territorialen Integrität und zum Schutz ihrer Bevölkerung absprechen zu können. Die Katholische Kirche folgte grundsätzlich dieser Entwicklung und beschloss im Zweiten Vatikanischen Konzil, dass militärische Gewalt nur noch im Verteidigungsfall erlaubt sei: Solange nämlich die Gefahr eines Krieges da sei und eine zuständige und mit angemessenen Mitteln ausgestattete internationale Autorität fehle, solange wird man – freilich nach Ausschöpfung aller Hilfsmittel friedlicher Verhandlungen – den Regierungen das Recht auf rechtmäßige Verteidigung nicht absprechen können (vgl. GS 79). Gleichzeitig wurde aber auch verstärkt auf die Tradition der Gewaltfreiheit zurückgegriffen. So räumte das von 1962-1965 stattgefundene Konzil erstmals ein Recht auf Wehrdienstverweigerung ein und in der christlichen Ökumene der Folgejahrzehnte wurde zunehmend die traditionelle Lehre vom gerechten Krieg durch das Konzept des gerechten Friedens ersetzt. Mit diesem Konzept ist erstens der Friede als Ziel gegenüber dem Mittel des Krieges hervorgehoben. Zum gerechten Frieden gehört zweitens auch die Einsicht, dass Friede nicht nur in der Abwesenheit von Krieg besteht, sondern als weites Konzept verstanden auch soziale Gerechtigkeit umfassen muss. Es gilt aber noch grundsätzlicher zu bedenken, wie Texte der katholischen Soziallehre zu lesen sind und welche Aufgabe darin konkret der Kirche zukommt. Texte des päpstlichen Lehramtes sind keine direkt umsetzbaren politischen Handlungsanweisungen, sondern bieten eine ethische Grundorientierung, die zuerst an die Mitglieder der Kirche selbst gerichtet sind.
Die vorrangige Option für die Gewaltfreiheit, die das Konzept des gerechten Friedens bestimmt, bleibt auch hinsichtlich des Krieges in der Ukraine gültig. Kurzfristig scheinen militärischer Widerstand und entsprechende Unterstützung erforderlich zu sein. Kirchen und Religionsgemeinschaften haben dabei in erster Linie die Aufgabe, gegen die Eskalation des Konflikts zu wirken, indem sie sich trotz zahlreicher wahnsinnig schmerzhafter Einzelschicksale gegen eine (emotional durchaus nachvollziehbare) Dämonisierung des Gegners wenden, die alle Lösungswege behindert und zukünftige Szenarien politischen, gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Friedens fast unmöglich machen würde.